Digital Migration

paraflows .X: Digital Migration
Wanderungsbewegungen

Unterschiedliche Wanderungsbewegungen durchziehen die Gesellschaft, in der wir leben, und verändern sie unaufhörlich. Unsere Welt, unser Erfahrungshorizont und die Bedingungen unserer Verwertung werden dabei stets aufs Neue „umstrukturiert“ (um ein ökonomisches Schlagwort ins Spiel zu bringen), das heißt: neu gefasst, und zwar in einer Geschwindigkeit, die wir nicht selten als Überforderung erleben. Diese Bewegungen finden auf allen politischen, ökonomischen und kulturellen Ebenen statt. Und in der Zusammenschau drängen sie – bei aller Verschiedenheit und Ungleichzeitigkeit – zu einem gemeinsamen Begriff: dem der „Migration“.

Die  Soziologie versteht „Migration“ in der Regel als globale Wanderungsbewegung von Menschen(-gruppen), die ihren alten Lebensraum verlassen, um in einem neuen heimisch zu werden. In diesem Sinne (wie ebenso im allgemeinen Begriffsgebrauch) wäre sie lediglich der „Wechsel des Wohnorts“ sowie die aus ihm resultierenden sozialen Folgeerscheinungen.

paraflows .X geht hingegen davon aus, dass Migration weit mehr ist als bloß jene Mobilität, die die ökonomischen Bedingungen den Menschen anbieten oder auch: aufzwingen. Zu Beginn des neuen Jahrtausends sehen wir uns einer Gesellschaft gegenüber, in der alles in Bewegung geraten ist. Das kontrollgesellschaftliche Subjekt ist integraler Bestandteil eines „perpetuum mobile“, selbst da, wo es über viele Jahre hinweg dieselbe „physische“ Adresse hat.

Damit ist Migration nicht allein die Angelegenheit von Migrant_innen und jener Orte, an die es sie zieht. Als gesellschaftliche Mobilisierung wird sie die nächsten Jahrzehnte prägen, um das Verwertungsprinzip bis auf weiteres aufrechtzuerhalten.

Migration setzt sich aus einer Vielzahl von Bewegungsmustern zusammen, kleinen wie großen, ungleichzeitigen, die sich überlagern oder durchkreuzen und die in linearen oder sprunghaften, in prognostizierbaren oder gänzlich unvorhergesehenen Bahnen verlaufen können, in Schüben, kleinen Schritten und Riesensprüngen, in schnellem Wechsel, unaufhörlichem Voranschreiten und ziellosem Umherschweifen. Sie führen durch reale und virtuelle Räume, die sie miteinander vernetzen, aufeinander beziehen und abbilden.

Jene Migrationsformen, die Menschenströme in der Regel vom globalen Süden in den Norden führen, sind also nur der am deutlichsten sichtbare Ausdruck einer zunehmenden Verflüssigung, die so gut wie alle vormals statischen oder starren Strukturen erfasst hat.

Und selbst die migrantische Lebensform im engeren Sinne – die der Geflüchteten und Wanderarbeiter_innen – bewegt mehr als nur ihr Subjekt. Sie mobilisiert oder verflüssigt die Kulturen, Lebensweisen oder Sprachen, die Sozialräume und Identitätskonstruktionen jener Orte, an denen sie vorübergehend Station machen.

Überlagert, angetrieben oder auch ausgebremst wird sie wiederum von den Zirkulationsströmen der Ökonomie: Waren, Wissen, Produktionsmittel, Ideologien und „Werte“ sind global im Fluss. Auch das sind Formen von „Migration“, die die Bewegung von Menschen und die Bewegung von Gütern, Ideen und Technologien als Ausdruck ein und derselben Mobilität sichtbar macht.

Als Prozess wird Migration nie abgeschlossen sein (etwa im Sinne des Umzugs, an dessen Ende ein neuer Wohnort steht). Sie trägt die Züge permanenter Wanderschaft, die immer wieder verlangt, dass wir unsere Lebens- und Arbeitsweisen neu ausrichten. Wir müssen uns stets aufs Neue an technologische Innovationssprünge anpassen, „lebenslang lernen“ und dabei liebgewordene Gewohnheiten über Bord werfen. Zumindest in einer symbolischen Weise sind wir alle Migrant_innen, weil die ökonomischen Anrufungen der Mobilität und Flexibilität uns ganz zwangsläufig erreichen. Wir müssen ihnen Folge leisten, wenn wir nicht zu den Abgehängten gehören wollen: den ökonomisch oder kulturell Nutzlosen. Sie sind der wertlose Bodensatz einer Migrationsgesellschaft, der im Elend der eigenen Überflüssigkeit sesshaft geworden ist. Lediglich ihr Hass auf Migrant_innen (als Platzhalter für einen ungreifbaren allgemeinen Migrationsdruck) lässt sich von bürgerlicher Politik noch gelegentlich für politische Zwecke (etwa die Regulation von Zuwanderung) instrumentalisieren.

Migrant_innen spielen daher nicht nur als bewegliche menschliche Ressource eine wichtige Rolle. Sie können auch für die Folgen der jeweils aktuellen Krise verantwortlich gemacht werden: als Personifikation einer abstrakten, kaum greifbaren Dynamik des Kapitalismus. Eine ähnliche Funktion hatte bereits der Antisemitismus des frühen 20. Jahrhunderts.

Dem spielt in die Hände, dass die migrantische Lebensweise (obgleich selten freiwillig gewählt) das Prinzip der Identität (als die genuine Warenform des bürgerlichen Subjekts) zersetzt. Migrantische Identität ist stets flüchtig. Sie lässt kulturelle Hybridformen entstehen, die nicht nur jene verändern, die migrieren, sondern auch die Orte, an denen sie sich vorübergehend niederlassen oder eine Zeit lang aufhalten. Anders als die Umgezogenen, die sich eine neue Heimat einrichten, kennen sie diese nur als Zustand, von dem sie sich kontinuierlich wegbewegen. Und auch wenn sie ihn noch so sehr vermissen und überhöhen, unterwandern sie doch die ideologische Vorstellung vom an seinem Herkunftsort verwurzelten Menschen, dem ohne „die Heimat“ etwas fehlt.

Gemeinsam ist den widersprüchlichen Verlaufsformen, in denen uns Migration begegnet, dass sie „gewachsene“ Strukturen auflösen und dabei das scheinbar Natürliche als soziale Übereinkunft entlarven. Dass sie Menschen und ihre Lebensweisen aus einer vormals unverbrüchlichen Raumbeziehung lösen und auf diese Weise Handlungsspielräume und Entscheidungsmöglichkeiten erweitern –auch für die, die dabei „überfremdet“ werden – macht sie bedrohlich und unberechenbar. Gegenüber dem restriktiven „Eigenen“, das das Subjekt einer Fremdbestimmung unterwirft, die von ihm verlangt lokale, nationale oder kulturelle Identität zu repräsentieren, bedeutet das Fremde, das es auflöst oder überschreibt, stets einen Zugewinn an Freiheit.

Migrant_innen führen uns also in erster Linie vor Augen, dass Heimat eine ideologische Fiktion (und eben kein anthropologischer Idealzustand) ist. In den Augen derjenigen, für die Herkunft und Identität bindende soziale Vereinbarungen sein sollen (weil auch ihnen häufig keine andere Wahl bleibt), sind sie gerade deswegen gefährlich, weil sie die Möglichkeit eines entwurzelten Lebens jenseits von Scholle und Volksgemeinschaft repräsentieren.


Migrationsdebatten

Als (Über-)Lebensstrategie entziehen sich die Effekte und die Formen der Migration einer eindeutigen Bewertung. Weder sind sie durchweg zu begrüßen, noch rundheraus abzulehnen, gemeinsam ist ihnen nur, dass sie sich kaum wirkungsvoll unterbinden lassen. Grenzschutzagenturen können Migrant_innen abfangen, einsperren oder ersaufen lassen; die Migration als globale Dynamik lässt sich damit nicht mehr einhegen.

In den gegenwärtigen Migrationsdebatten wird der Begriff meist exklusiv für Menschen benutzt, die sich auf der Flucht vor den konkreten Auswirkungen der ökonomischen Mobilität befinden, die sich von der Süd- in Richtung Nordhalbkugel aufgemacht haben, weil ihnen dort infolge von Klimawandel, aggressiver Überschwemmung lokaler Märkte mit europäischen Billigwaren, Zerstörung örtlicher Ressourcen (etwa durch das industriell organisierte Leerfischen afrikanischer Küstengewässer) etc. die Lebensgrundlage entzogen wurde.

Die Wanderung von Menschen, die vor Krieg oder unerträglichen Lebensbedingungen davonlaufen, wird dabei aus dem Zusammenhang ökonomischer Migrationsverläufe isoliert und als Sonderfall eines Lebens auf der Flucht entworfen. Seine Subjekte erscheinen in dieser Perspektive vor allem als Opfer – meist von skrupellosen Schlepperbanden, die die Bewegung der Illegalisierten als jenen Schwarzmarkt organisieren, zu dem sie die rigiden europäischen Einreisebedingungen gemacht haben, die faktisch alle legalen Zugänge zur Festung Europa verriegelt haben. Über ihr schreckliches Schicksal informieren uns Berichte und Reportagen; auch natürlich darüber, dass die brutale und menschenverachtende Flüchtlingspolitik der EU-Länder seit vielen Jahren ihre physische Auslöschung willentlich in Kauf nimmt und nur infolge des nicht mehr ignorierbaren Massensterbens auf dem Mittelmeer sich im Moment um einen humanen Tarnanstrich bemüht, der Firmen wie Frontex als Retter in der Not erscheinen lässt (statt wie bisher als skrupelloses Grenzregime).

Dass auch das nur ein vorübergehender medialer Aufmerksamkeitseffekt sein wird, dürfte allen klar sein, die sich nicht erst seit 2015 mit so genannter „Flüchtlingspolitik“  befassen.

Nur wenn aus Geflüchteten wieder Subjekte und aus dem massenhaften unreglementierten Zustrom, den die öffentliche Wahrnehmung aus ihnen gemacht hat, wieder Individuen werden, kann ihnen das Recht zugestanden werden, über ihren Aufenthaltsort selbst zu bestimmen. Unter den sich immer weiter verschärfenden Verwertungsbedingungen der Ressource „Mensch“ wird dies allerdings kaum möglich sein.

Die medial und politisch inszenierte Opferrolle degradiert Migrant_innen zu einem Objekt, mit dem je nach ökonomischer, politischer oder moralischer Konjunkturlage mal so und mal so verfahren werden kann. Auch wo sie aus überfüllten Booten gerettet und erstversorgt werden, bleiben sie der recht- und wehrlose Gegenstand einer Politik, die zwischen brutaler Abschiebepraxis und humanitären Gnadenakten oszilliert. Migran_tinnen pauschal als „Opfer“ von Globalisierung zu betrachten, denen jede andere Auseinandersetzung mit ihren individuellen Motiven und Zielen verweigert wird als die, vor bekanntermaßen „schrecklichen afrikanischen Verhältnissen geflohen zu sein, drängt sie in eine weitere Opferrolle: als Objekt europäischer Bedürfnisse: von der Projektionsfläche eines wohlmeinendem Altruismus bis zum Krisenreservoir für den deregulierten Arbeitsmarkt.

Dieser Status kehrt dann, wenn sie es tatsächlich aufs europäische Festland geschafft haben und ihnen dort wenigstens ein temporärer Aufenthalt gestattet wird, im Diskurs der „Integration“ wieder, der kulturelle Anpassung an die neue Umgebung fordert (auch von mehr oder weniger sesshaft gewordenen Wanderarbeiter_innen) und sich dabei aber vor allem an die „Einheimischen“ richtet, deren Überfremdungsängste und xenophobe Affekte in ihm kanalisiert und politisch instrumentalisiert werden. Und wenn Migrant_innen überhaupt als Subjekt adressiert werden, geschieht dies fats ausschließlich im Namen ihrer Integration: Den/die Gemüsehändler_in an der Ecke nehmen wir vermutlich nur in dem Maße als Individuum wahr, in dem er uns ähnelt – und das heißt: je weiter er sich von jenem Fremden entfernt hat, das er oder sie repräsentiert. Dies ist der altbekannte Hauptwiderspruch der Integrationsdebatten: Um überhaupt in den Genuss von Partizipation, Inklusion und Selbstbestimmung gelangen zu können, müssen Migrant_innen Teile ihrer selbst aufgeben; welche das sind, darüber hat allein die Mehrheitsgesellschaft zu bestimmen Sie behält sich das Recht vor, als Gegenleistung für ihre prinzipielle Integrationsbereitschaft Bedingungen zu stellen.

Wer „bei uns“ leben möchte, so der stets wortgleiche Tenor, muss seine migrantische Identität gegen die des Gastlandes eintauschen (auch wenn sie ihm/ihr jederzeit wieder entzogen werden kann) und aufhören, ein „Anderer“ zu sein, sondern ankommen und heimisch werden. Transitorische oder flüchtige Identitäten sind dabei nicht vorgesehen. Das gilt allerdings nur für die Armutsmigration. Implizit wird sie dabei immer schon von jenen Migrant_innen unterschieden, die – wie internationale Fußballprofis – stillschweigend geduldet oder begrüßt werden.

Was erwünschte und was unerwünschte Migration ist, und was ein Migrationsproblem darstellt, regelt das Verwertungsprinzip und jene öffentliche Meinung, in der es Gestalt annimmt. In ihr vermischen sich profitfokussierte, utilitaristische, sozialtechnische und biopolitische Kategorien mit unterschwellig stets mitlaufenden rassistischen Motiven. Wie Migration dargestellt wird, hängt von der jeweiligen Migrant_innengruppe oder auch: -klasse ab und wird vom Egozentrismus und Kontrollzwang der Einheimischen entschieden, der sich mit sich selbst darüber verständigen muss, was ihm schadet und was ihm (in Form von Kapitalakkumulation, als Entlastung von Arbeit oder als Ausweitung des kulturellen Erfahrungshorizontes) nutzt, welche Migrant_innen zu „uns“ passen und sich sinnvoll in das Bestehende integrieren lassen, und welche „uns“ „überfremden“ und in einer nicht mehr kontrollierbaren Weise verändern.

In einer solchen Perspektive sind Migrant_innen eine Ware und Migration ein Markt, auf dem sich die Einwanderungsländer des Nordens nach Herzenslust und aktueller Bedarfslage mit Menschenmaterial eindecken können.

Wer „Migration“ lediglich als Bewegung bestimmter Menschengruppe versteht und dergestalt hypostasiert, bestätigt die Gegenüberstellung von verwurzelten, mit territorialen Gewohnheitsrechten ausgestatteten Menschen (denen ein bestimmter Ort per Geburtsrecht gehören soll) und einer (nicht immer freiwillig gewählten) nomadischen Lebensweise. In dieser Perspektive können Migrant_innen nur noch als legitime oder illegitime Eindringlinge erscheinen: als Bedrohung oder Bereicherung.

Noch immer ist die europäische Zuwanderungs- und Flüchtlingspolitik von dieser Dichotomie geprägt, die es notwendig erscheinen lässt, Migration zu reglementieren und zu kanalisieren. Die Definitionshoheit bleibt dabei in den Händen derjenigen, die sich selbst für sesshaft halten. Ihr verengtes Verständnis von Migration zwingt Menschen, die Rechte haben (etwa darauf zu reisen und selbst zu entscheiden, wo sie sich wie lange aufhalten wollen) einen formal rechtlosen Status auf. Als Illegale sind sie den Maßnahmen und Launen der Einheimischen schutzlos ausgeliefert. Konjunkturlage und Volksseele können sich (unter dem konstitutiven Ausschluss von Migrant_innen) in aller Ruhe darüber verständigen, wer bleiben darf und wer als „Armutsflüchtling“ zurückgewiesen wird. Die individuellen Bedürfnisse, Interessen und Notlagen der Migrant_innen spielen dabei nur in dem Maße eine Rolle, wie sich mit ihnen öffentlichkeitswirksame Humanitäts- und Verantwortungsrituale inszenieren lassen.

Vor diesem Hintergrund ist bedingungslose Solidarität mit allen Migrant_innen – und insbesondere auch den so genannten „Wirtschaftsflüchtlingen“ – selbstverständlich. Dass paraflows .X als Festival für digitale Kunst und Kultur den Begriff der „digitalen Migration“ zum Thema macht, ist Ausdruck dieser Solidarität, die allerdings nicht dazu verleiten darf, Migration zum genuinen Sonder- und Notfall menschlichen Lebens zu erheben (wie es der Konsens fast aller Migrationsdebatten ist). paraflows .X versteht Migration als Normalfall auch des eigenen, vermeintlich sesshaften und eingewurzelten Lebens – und als modus operandi einer globalen Kultur und Ökonomie. Wo Dinge, Begriffe und Wissen unablässig in Bewegung sind, lassen sie sich allenfalls danach unterscheiden, welche gesetzlichen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen ihnen dabei gesetzt werden: Jene Grenzen, die für Waren und Menschen des Nordens sperrangelweit offen stehen, werden für Menschen aus dem Süden zur unüberwindlichen Hürde und zur Todesfalle aufgerüstet. Reisefreiheit mag in der Theorie ein hohes Rechtsgut sein, in der Praxis ist sie ein Privileg, das nur denen zuteil wird, die über den richtigen Pass verfügen. Dass die europäische (wie ebenso die nordamerikanische) Migrationspolitik eine prinzipiell rassistische Unterscheidung von Migrationssubjekten impliziert, lässt sich wohl am besten mit einem erweiterten Migrationsbegriff zeigen.

Wenn wir unser eigenes Leben – als Subjekte wie als „digitale Szene“ – im Begriff der Migration zu begreifen suchen, so verstehen wir das nicht nur als solidarische Bezugnahme auf eine Gruppe, die bislang immer nur von außen definiert wurde. paraflows .X geht davon aus, dass wir aus diesem Teufelskreis nur ausbrechen können, wo wir Migration als gemeinsame Erfahrung betrachten (die sich natürlich sehr unterschiedlich gestalten kann). Nur so lässt sich die für viele Migrant_innen noch immer lebensgefährliche Unterscheidung in fremde Zuwanderer_innen und eingeborene Gastgeber_innen außer Kraft setzen; auch wenn wir damit Gefahr laufen, die Erfahrungen der Geflüchteten zu vereinnahmen und mit eigenen Problemen und Bedürfnissen zu überschreiben (wodurch sie wieder unsichtbar oder vielleicht sogar symbolisch ausgelöscht würden), um der digitalen Kultur etwas Schillerndes und einen Hauch von Gefahr anzudichten.

Der Migrationsbegriff, den paraflows .X vorschlagen möchte, soll also die wesentlichen Differenzen zwischen einem Leben auf der Flucht und der Suche nach (Überlebens-)Möglichkeiten einerseits sowie den Problemen der waren- und kulturproduzierenden Klasse unter den gegenwärtigen Bedingungen anderseits anerkennen, um sie mit dem Wissen um die prinzipiellen Gemeinsamkeiten aller Subjekte im Spätkapitalismus kurzzuschließen, deren jeweilige Lagen sich nach Drastik und Lebensbedrohlichkeit auffächern lassen, dennoch aber denselben strukturellen Zwängen unterliegen.

Wir alle sind Getriebene ökonomischer und politischer Bedingungen, die sich unserer direkten Einwirkung entziehen, die aber stets miteinander verflochten sind. Die Demokratisierung, sprich: die Verbilligung, digitaler Technologie ist z. B. durch Niedriglohnstandards in Schwellenländern erkauft, die keine Grundlage für ein gutes Leben darstellen. Und die schier unbegrenzten Möglichkeiten, die sie uns an die Hand geben, führen durch steigenden Energieverbrauch zu jenem Treibhauseffekt, der immer mehr Menschen auf der Südhalbkugel die Lebensgrundlage entzieht.

Die digitale Utopie ist von dystopischen Momenten durchsetzt, die wir nicht einfach in der Lobrede auf die neuen digitalen Freiheiten eskamottieren dürfen: Ihre Folgekosten werden nach wie vor vom Norden an den Süden delegiert, weil Freiheit zu kapitalistischen Bedingungen immer die Unfreiheit der Anderen ist.


Die Dialektik der Migration

Migration lässt sich also weder einseitig als Chance zu neuen Erfahrungen und zur Verbesserung unserer vormals starr verankerten Lebenswelt verstehen, noch ist sie bloß als jenes Zwangsverhältnis zu begreifen, als das uns der Verwertungszusammenhang gegenübertritt, dem unser gesamtes Leben unter den gegebenen Bedingungen unterworfen ist.

Im Begriff der Migration liegen Aufbruch, Reise, Flucht und Getriebenheit als sich überlagernde Erfahrungsmodi dicht und manchmal ununterscheidbar beieinander. Die ihm eingewobene Dialektik (als Möglichkeit, die uns keine Möglichkeit lässt) muss der Ausgangspunkt für alles Reden über „Migration“ und ihre konkreten Formen und Subjekte sein. Sie ist der besondere Ausdruck jener Freiheit zur Unfreiheit, die die spätkapitalistische Lebenswelt kennzeichnet. So können wir uns vor einem Begriffsgebrauch schützen, der „Migration“ zum affektiv aufgeladenen Schlagwort macht, mit dem sich politische Ziele und ökonomische Interessen durchsetzen lassen – und zwar je leichter, umso isolierter bestimmte Migrationsaspekte pars pro toto gesetzt werden.

Im Kapitalismus bleibt Migration ein Freiheitsversprechen, das wir nicht ablehnen können. Ihre Verheißung tritt stets in einer Drohkulisse auf. Und auch der Entschluss, sich in Bewegung zu setzen, entspringt nur selten der freien Entscheidung. Er reagiert auf Sachzwänge, in denen er nach Überlebensmöglichkeiten, Schutz oder generell: einer besseren Zukunft sucht, die es da, wo sich das Subjekt befindet, längst nicht mehr gibt. Die hegemonialen Strukturen, die auf diese Weise aufrechterhalten werden, etwa indem billige Arbeitskräfte den selbst migrantisch gewordenen Produktionsstätten hinterherreisen, werden dabei jedoch zugleich unterwandert und ausgehöhlt. Der Norden sichert seine kulturelle und ökonomische Vormachtstellung mithilfe von Migrant_innen, doch deren zumindest temporäre Anwesenheit beginnt seine räumlich-sinnhafte Umklammerung aufzulösen. Reterritorialierung und Deterritorialisierung gehen dabei stets Hand in Hand.

Der Mobilmachung, in der sich die spätkapitalistische Gesellschaft  konstituiert, können sich auch die Sesshaften nur um den Preis ihrer Deklassierung verweigern. Flexibilität – nicht nur im Sinne räumlicher Mobilität, sondern ebenso verstanden als Bereitschaft, kulturelle Innovationen und Technologiesprünge mitzuvollziehen – ist eine Schlüsselfähigkeit des kontrollgesellschaftlichen Subjekts. Wir müssen stets bereit sein, Liebgewonnenes aufzugeben und uns Neues unverzüglich zu Eigen zu machen. Die, denen das nicht gelingt, sind auf dem Arbeitsmarkt schwer vermittelbar. Kulturell verlieren sie den Anschluss. Wer nicht mitzieht, bleibt zurück. Darauf zu beharren, was wir kennen – und vor allem wie wir es kennen –, mag eine Form der individuellen Rebellion sein, in der wir uns gegen die Fremdbestimmtheit unseres Lebens auflehnen. Vom Zwang, in Bewegung zu bleiben, kann sie uns nicht mehr erlösen.


Die Digitalität der Migration und die „Digitale Migration“

Im Verständnis von paraflows .X steht „Migration“ für die globalen Bewegungsströme von Menschen, Gütern und Ideen, die sich überlagern, kreuzen, gegenseitig aufheben oder wechselseitig vorantreiben und auf diese Weise den Erfahrungs- und Wissenshorizont ihrer Subjekte permanent erweitern. Selbst wo sie sich als unbewegt erleben, ihren Lebensmittelpunkt nie verändern und stets die gleichen Räume frequentieren, sind sie von ihr betroffen, schon weil sich das Vertraute verwandelt hat: Das Stammcafé hat sich mit freiem Internetzugang aufgerüstet, so dass wir von dort aus weltweit kommunizieren und jene Arbeit erledigen können, für die wir früher noch ins Büro mussten. Und selbst die, die sich dem Onlinesein am Beisltisch verweigern, können nicht verhindern, dass andere die neuen Möglichkeiten nutzen, ihnen damit voraus sind und das gute alte Wiener Kaffeehaus in einen globalisierten Hot Spot verwandeln.

War es früher nötig, in die Metropolen zu ziehen, um an der Welt teilzuhaben, lässt sich viel von dem, was einmal nur dort möglich war, auch an entlegenen Orten erledigen, weil Daten und Dienste, das Netz und die in ihm geknüpften sozialen Netzwerke uns miteinander verbinden, solange die dafür nötige technologische Infrastruktur zur Verfügung steht. Mit der Digitalisierung haben die deterritorialisierenden Effekte der Migration fast alle Bereiche unseres Lebens erfasst.

Im Rahmen von paraflows .X möchten wir daher von der digital migration reden, die einen technologischen Rahmen für die globalen Wanderungsbewegungen darstellt. Wir wollen damit einzelne Migrationsformen als Bestandteil eines tiefgreifenden Wandels verstehen, um dadurch die, die als Migrant_innen um ihr Leben laufen oder Zugang zum (vermeintlich) besseren Dasein in der „Ersten Welt“ einfordern, auf eine andere Weise integrieren, als es jene Integration im Sinne hat, die die öffentliche Meinung von ihnen fordert. „Migration“ soll in dieser Perspektive von einer politischen Verwaltungstatsache (und einer „Sicherheitslücke“ in der Festung Europa) zu einer Lebensweise werden, die ihre eigene Kultur hervorbringt, an der ganz unterschiedliche Akteur_innen partizipieren.

Die spezifische Form der digitalen Kultur, die sich unserem Bewegungsverhalten anzuschmiegen vermag, verbindet die globalisierte Netzkultur mit jenen, die fast alles zurücklassen mussten. Natürlich ist sie keineswegs so frei und umsonst zu haben, wie es uns die Free Software-Bewegung einreden will, zumindest nicht, solange die Rechner, auf denen ihre Programme lizenzfrei und unentgeltlich laufen, nicht mitgeliefert werden – und ebenso wenig der Strom, der sie antreibt. Dennoch teilen wir diese Technologie mit vielen Migrant_innen. Und je weiter wir deren Zugangsbeschränkungen (etwa in Form kommerzieller Softwarelizenzen und privatwirtschaftlich verwerteter Patente) aufheben, desto mehr können sie zum kulturellen Produktionsmittel all jener werden, die mit kleinem Gepäck umherziehen (müssen).

In der digitalen Kultur ist Migration nicht nur ein Lebensmodus und eine besondere Kulturform, sondern ebenso ein technologisches Faktum: Das Problem der Datenmigration ist so alt wie die Daten selbst. Wo sie eines Speichermediums bedürfen, stehen sie nur so lange zur Verfügung, wie es die Medien tun, mit denen wir sie prozessieren können. Deren Lebensspannen sind immer kürzer getaktet. Der stete Verfall ist den jeweils aktuellen Standards bereits werkseitig eingebaut: Laptops, iPads oder Notebooks werden mit integriertem Ablaufdatum hergestellt; neue Betriebssysteme immer schneller auf den Markt geworfen, wo sie die alten, die keinen Profit mehr abwerfen, verdrängen, auch wenn die eigentlich stabil laufen. Dies führt dazu, dass wir eine vor dreißig Jahren bespielte Tonbandkassette, die bei sachgemäßer Lagerung heute noch immer funktioniert, gegenwärtig vermutlich leichter auslesen können als eine fünfzehn Jahre alte Diskette. Ein Laufwerk, das uns den Zugriff auf die auf ihr enthaltenen Daten ermöglicht, hat kaum noch jemand im Rechner, und wenn doch, ist damit noch lange nicht sichergestellt, dass sie vom Betriebssystem verarbeitet werden können. Der Inhalt der Diskette wird also vermutlich für alle Zeit verloren sein, auch wenn wir sie noch fünfzehn weitere Jahre aufbewahren.


Medienkunst als Migrantin. Oder: Das digitale Kunstwerk im Zeitalter seiner Nichtmehrreproduzierbarkeit

Exemplarisch stellt sich dieses Problem einer Kunst, die mit digitalen Mitteln arbeitet, weil sie darin die genuine Ausdrucksform der digitalen wie der Migrationsgesellschaft erblickt.

Ihre Artefakte verfallen schneller als dies traditionelle Kunstobjekte je könnten. Sie korrodieren nicht nur wie jene CD-Roms, auf denen sie abgespeichert wurden. In vielen Fällen müssten sie, um mit der technologischen Entwicklung Schritt zu halten, regelmäßig auf neue Datenträger überspielt werden, die mit der jeweils aktuellen Hard- oder Softwaregeneration kompatibel sind. Zudem fokussiert ihre Ästhetik nicht selten auf das materielle Trägerobjekt. In der frühen Medienkunst wurden Video- und Filmarbeiten oft für die Darstellung mit Röhrenmonitoren produziert. Die benutzt heute aber niemand mehr; Ausstellungsorte werden sie in absehbarer Zeit wohl nur noch mit erheblichem organisatorischen Aufwand zur Verfügung stellen können. Je mehr sie außer Gebrauch kommen, desto mehr geht das Wissen verloren, das wir brauchen, um sie instand zu halten, zu modifizieren und zu reparieren. Ersatzteile sind kaum aufzutreiben und aufrüsten lassen sie sich ja sowieso nicht.

Je besser und differenzierter die Abspiel- und Darstellungsmedien werden, desto anachronistischer wirken Werke, die die Medienkunst zu ihrer Pionierphase geschaffen hat. Dadurch verlieren sie ihren ursprünglichen Gehalt, der einmal darin bestand, der jeweils allerneuesten Technologie zu künstlerischem Ausdruck zu verhelfen. Was in der Frühzeit der digitalen Revolution futuristisch auftreten konnte, ist heute nur noch um den Preis altmodischer Patina abrufbar. Ein expressionistisches Gemälde der 1920er dagegen wird seinen Ausdruckswert nicht in der gleichen Weise verändern, selbst da nicht, wo es mit den digitalen Mitteln der Gegenwart (also z. B. auf einer Webseite) präsentiert wird. Vormals Furchteinflössendes oder Beeindruckendes bekommt so eine neue ästhetische Qualität, die sich mit Begriffen wie „Vintage“, „Nostalgie“, „Hauntology“, „Camp“ oder „Trash“ umschreiben lässt.

Die Migration der Kunst in den digitalen Raum lässt sich deswegen aber noch lange nicht als Fehlentwicklung oder Sackgasse begreifen, nur weil sie dort einem historisch neuen Alterungsprozess unterworfen ist. Als Kunst des digitalen Zeitalters verändert sie die Vorstellung, die wir uns von ihr machen (und steht damit in einer ästhetischen Tradition, die ihre eigene Vergänglichkeit inszeniert). Wie wir es von Artefakten der „Chemical Art“ kennen, streift digitale Kunst ihren Ewigkeitsanspruch ab, damit ein neuer transitorischer oder „migrantischer“ Kunstbegriff an dessen Stelle treten kann.

Der alte Kunstbegriff, der die materielle Existenzform eines Werks als dessen Wesenskern betrachtete – so wesentlich, dass Künstler_innen immer wieder spektakulär dagegen aufbegehren mussten –, scheint für die digitale Kultur kaum mehr eine Rolle zu spielen. Er hat seine Verbindlichkeit verloren. Und auch das ist eigentlich nichts Neues. In der Kulturgeschichte ergaben sich die zeitgemäßen Werk- und Kunstbegriffe stets aus der jeweils zur Verfügung stehenden Technologie, ja, selbst die Vorstellung, die wir uns heute von der Zeitlosigkeit alter Meister machen, ist nur ein Effekt moderner Restaurationsverfahren, die sie so wiederherstellen und konservieren, wie sie einmal ausgesehen haben.

Wo neue Technologien alte ablösen, verlieren diese ihren Wert. Neue Rezeptionsweisen entstehen, um ihnen gerecht zu werden. Ein berühmtes Beispiel dafür ist Walter Benjamins Text Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit von 1935.

Die Reproduzierbarkeit – Benjamin dachte dabei vor allem an den Film und das Kino – hat alte Vorstellungen vom (Bild-)Original und der Erfurcht einflössenden „Aura“ in Frage gestellt, die es umgibt – etwa als „Mona Lisa“, die wir in echt nur im Louvre sehen können (oder auch nicht: denn in der Regel verstellen dort Zuschauermaßen den Blick auf sie …). Jene Aura kann dem Werk aber nur da zukommen, wo es einmalig ist bzw. nur in einem begrenzten Kontingent existiert (z. B. als nummeriertes Multiple oder als seltene Originalausgabe). Auf diese Weise kann es privat gesammelt und unter Verschluss gehalten werden. Als Wertobjekt ist Kunst Ausdruck der bürgerlichen Besitzkultur, die sie bestätigt und ideologisch in ihrer „Kunstgestalt“ reproduziert.

Der Film ermöglicht für Benjamin einen neuen Kunstbegriff, weil er auf jene Vervielfältigung angewiesen ist, die seine besondere Form ausmacht. Während wir in einem Bildband (oder auf der Webseite des Louvre) nur eine kopierverlustige Version der Mona Lisa zu sehen bekommen, einen Schatten des Originals, ist beim Film das Original nur eine Kopie. Sein ursprüngliches Trägerobjekt mag einen gewissen Sammler_innen- und Schauwert haben, aber die Überspielung in jeweils aktuelle Medienformate (etwa auf DVD oder als Stream) mindert den Kunstgenuss keineswegs, auch wenn manche das gelegentlich behaupten, um von der alten Darbietungsform schwärmen zu können (wie von einem Original). Aber das ist reine Koketterie; zumal auch in der digitalen Kultur die alten analogen Formen nicht einfach verschwinden: Kinos gibt es noch immer, wenn auch nicht mehr ganz so viele wie in seiner Blütezeit; Schallplatten werden immer noch hergestellt etc. Nur sind sie nicht mehr die dominante Form, sondern Liebhaberei; eine Möglichkeit unter vielen, Filme zu sehen, Musik zu hören oder Kunst zu produzieren, und sich dabei von anderen zu unterscheiden, die das nur noch auf Höhe des technisch Möglichen tun.


Migrantische Kunst und die Kunst des Migrierens

Benjamins Text versteht das Prinzip der Reproduzierbarkeit als Bestandteil eines revolutionären Prozesses: als Überwindung der bürgerlichen Ästhetik, die mit den Vorstellungen vom Original immer auch Ideologien des Echten, Authentischen und Unmittelbaren in Umlauf brachte und die Frage nach Besitz- und Bestimmungsrechten aufwarf. Die exklusive Kunst der Bürger_innen weicht in seiner Perspektive einer inklusorischen, demokratischen Kultur, in der das Filmkunstwerk synchronistisch an all jenen Orten erscheinen kann, an denen der Film gezeigt wird. Der Film ist ein „migrantisches“ Kunstwerk, weil er in Form von Kopien um die Welt reist.

Damit wurde Benjamin zum Vordenker eines Prozesses, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seine volle Wirkung entfaltet hat, als popkulturelle, und das heißt: kulturindustriell produzierte Artefakte die bildungsbürgerlichen Kunstobjekte ablösten: Schallplatten und Filme traten an die Stelle von Bildern oder Skulpturen; Popsänger_innen, Schauspieler_innen, Regisseur_innen übernahmen die Funktion von Künstler_innen. Jedenfalls teilweise. Die klassische Werkform der Kunst existierte weiter, aber längst nicht mehr so unwidersprochen und rezeptionsleitend wie noch wenige Jahren zuvor.

Die neuen „kulturellen Massenmedien“ markierten einen tief greifenden Einschnitt. Schallplatte und Kinosaal waren Ausdruck neuer, allgemein verfügbarer Reproduktionstechnologien. Und die ließen sich nicht mehr so einfrieren oder still stellen, wie die wertkonservativen Anhänger_innen der traditionellen Filmvorführung oder der Vinyl-LP sich das heute wünschen. Sie waren nur Durchgangsstadien in einem Verwertungsprozess, der immer weiter verbessert und in die nächste Ebene überführt werden wird, damit die Profitrater nicht fällt. Technische Neuerungen – wie etwa die in den 1980ern eingeführte CD – verbesserten die eingeführte Form stets nur mit der Absicht, dieselbe Ware noch einmal in einem anderen Format abzusetzen. Das Beatlesalbums, das sich bereits als LP millionenfach verkauft hatte, konnte mit ihr noch einmal anders angeboten werden. Dieser Prozess ging wenig später über die einstmals revolutionären Objekte hinweg, die zum nostalgischen und unzeitgemäßen Kulturausdruck erstarrten. Das digitale Zeitalter hat sie überflüssig gemacht. Abermals fand dabei ein fundamentaler Wandel von Kunstbegriff und Werkverständnis statt – vergleichbar dem, den Benjamin beschrieben hat.

Kunst, die mit Medien arbeitet, die sich nur temporär und transitorisch im Gebrauch befinden, wird sich selbst in etwas Transitorisches verwandeln. Der plastische Ausdruck des sich materialisierenden, ausstellbaren Werkes wird in ihr eine geringere Rolle spielen und soziale Interaktion an seine Stelle treten.

Die Werkkategorie und der Ewigkeitsanspruch der bürgerlichen Kunst waren kultureller Ausdruck der Sesshaftigkeit. Die Mona Lisa passt auch deswegen gut ins Louvre, weil es bisher noch nie umziehen musste. Vermutlich wird sie sich in 50 Jahren noch genau da befinden, wo sie heute schon ist. Im Zeitalter der Migration ist sie zum überkommenen Relikt geworden, dass sich vor allem als identitäres Argument (für die „abendländische Kultur“) gebrauchen lässt.

Digitale Kultur ist dagegen nicht nur der Ausdruck unserer (metaphorischen) Migrationsbereitschaft (in die jeweils nächste Technologiegeneration), sondern auch die genuine Kultur der Migrant_innen. Sie muss sich trennen von Altem, das sich nicht mehr abspielen lässt oder auf neuen Rechnern steif und ewiggestrig wirkt, ebenso wie Migrant_innen bereit sein müssen, Dinge und Identitäten zurückzulassen, die sie nicht mitnehmen können: sei es die „Heimat“ oder den dort akkumulierten Besitz. Digitale Kultur ist flüchtig und damit eine „Mobilitätsgarantie“. Alles, was sie benötigt, findet sie im Netz, also überall, wo Netzverbindung besteht, auf ihren Rechnern, iPods, USB-Sticks, in der Cloud usw. Mit dem e-book ist eine der letzten Säulen der sesshaften Kultur obsolet geworden: die Bibliothek. Alles lässt sich in Datensätze umwandeln, die zwar Speicherkapazität, aber so gut wie keinen Realraum mehr benötigen. Dafür nimmt die digitale Kultur in Kauf, dass die Daten selbst in der permanenten Gefahr schweben, zu Hieroglyphen werden, die sich nicht mehr auslesen lassen.

Das Digitale ist bereits seiner Form nach mobil und liquide, es bindet an keinen konkreten Ort mehr, seine Artefakte und Kulturgüter, aber ebenso die künstlerischen Produktionsmittel sind dazu geschaffen, unsere Bewegungen mitzuvollziehen: eine mittelgroße Plattensammlung lässt sich auf einem einzigen Stick speichern, der in der Hosentasche transportiert werden kann; unsere Lieblingsfilme passen auf eine einzige Wechselfestplatte etc.

Künstler_innen, nicht nur jene, die mit digitalen Mitteln arbeiten, sind migrantische Subjekte: Sie reisen von Ausstellung zu Ausstellung und von Stipendium zu Stipendium. Um Kunst zu studieren oder von ihr leben zu können, müssen sie die Orte verlassen, an denen sie aufgewachsen sind. Dass sie wandern und in Bewegung bleiben, wird von ihnen erwartet. Die Einflüsse, die sie verarbeiten, und die Eindrücke, die sie gestalten, sammeln sie in der Begegnung mit Orten, Menschen und Kulturen. Ihre Mobilität hindert sie daran, einzurosten.

Ihr globaler und kosmopolitischer Lebensstil mag bisweilen glamourös und verheißungsvoll wirken, aber auch sie kennen prekäre Bedingungen, befristete Jobs und den Zwang, zu reisen und sich dabei immer wieder neu zu erfinden. Dass sie dies komfortabler tun können als Migrant_innen, mag sie von diesen unterscheiden, solange jedenfalls, solange ihre Mobilität erwünscht ist und als produktiver Faktor von Wertschöpfung betrachtet wird.

Nicht selten sind die digitale Szene und ihre Orte (etwa Hackspaces) aber auch Anlaufstellen für Menschen, die ihre Heimat verlassen haben. Migrant_innen mögen in der digitalen Kulturszene noch immer unterrepräsentiert sein, aber wir treffen dort mehr Menschen an, denen der allgemeine Sprachgebrauch einen „Migrationshintergrund“ attestiert, als in den traditionellen Kunstdisziplinen; auch wenn immer noch sehr viele Zugangshürden aus dem Weg geräumt werden müssen …


Zur Standortbestimmung der digitalen Kunst als migrantische Kultur

paraflows .X möchte sich nicht nur mit den technischen Aspekten der digitalen Migration beschäftigen, sondern ebenso mit ihren sozialen und kulturellen Implikationen. Wir wollen fragen, unter welchen Bedingungen die Kunst eine migrantische, nämlich flüchtige und transitorische Form annehmen kann, was diese bedeutet und wie wir in ihr arbeiten können. Was heißt es für uns als digitale Kulturproduzent_innen, im Transit zu leben und immer nur im Vorübergehen an einer Kunst zu arbeiten, die unausweichlich flüchtig sein wird?

Werden uns die Bedingungen, zu denen wir arbeiten, von den technischen Mittel diktiert, die uns zur Verfügung stehen – oder können wir sie unseren Bedürfnissen entsprechend mit- und umgestalten? Und wenn ja, wie wollen wir sie verändern und also in jene Transformationsprozesse eingreifen, denen sie unterliegen?

Wer bestimmt überhaupt darüber, wann und warum Technologie ihre Anschlussfähigkeit verliert? Warum müssen wir dabei mitwirken, dass das geschieht – und dass es immer wieder geschieht? Wer entscheidet über Kompatibilität und darüber, was nicht mehr anschlussfähig sein soll? Ist das schnelle Altern unserer Produktionsmittel ein Schicksal, dem wir nicht entrinnen können, oder eine Chance, in ihnen gar nicht erst heimisch zu werden? Bewahrt sie uns vor der Aushärtung und Erstarrung der Identität? Oder zwingt sie uns dafür nur immer wieder neue Identitäten auf?

Und wie wirkt sich die rasante technologische Entwicklung auf jene aus, die an ihr partizipieren? Ist der Verdrängungskampf der Medien und Betriebssysteme ein Ausdruck der technologischen Evolution – oder ein Abdruck der ökonomischen Bedingungen, in denen sie sich vollzieht? Kann sie mehr sein als die technische Version des Konkurrenzkampfes, der die kapitalistische Ökonomie am Laufen hält und der uns in technischen Neuerungen, die ihre Vorgängermodelle überflüssig machen und verdrängen, als Sinnstiftung gegenübertritt

Bejahen wir ihn nicht als gleichsam natürliches Ausleseprinzip, wo wir „das Neue“ seiner Neuheit wegen verteidigen? Müsste der Innovationsdruck, der die Technologie antreibt, nicht als gewaltige Ressourcenverschwendung kritisiert werden – nicht nur im Rahmen jenes Energie- und Rohstoffverschleißes, den ihre Konstruktion und Massenproduktion bedeutet, sondern auch hinsichtlich jener Lebenszeit und finanziellen Mittel, die wir investieren müssen, um auf dem Laufenden zu sein und zu bleiben? Was macht eine darwinstische Technologie mit den Objekten, die sie hervorbringt? Ist der Verdrängungskampf, dem sie sich verdanken, noch von ihnen ablösbar oder hat er sich als ideologische Spur – als ihr Source Code – in sie eingeschrieben?

Was verhält sich ihr Zwang zu ihrem Freiheitsmoment, und was ist dabei eigentlich Zwang, was Freiheit?

Und was ist der Preis der Mobilität? Was müssen wir für sie aufgeben? Wie verändern die digitalen Reproduktionsverfahren jene Objekte, Klänge und Sehgewohnheiten, denen sie auferlegt werden?

Wir sind eingangs von einer Analogie ausgegangen, die sich zwischen eher realen und eher symbolischen Migrant_innen ziehen lässt. Auch wir haben erstere dabei von außen – von unseren Interessen aus definiert. Inwieweit sind unsere Projektionen mit den realen Erfahrungen von Migrant_innen vereinbar? Welche Wirkung hat es auf sie, wenn sich Menschen auf sie beziehen, deren Migration sie zwar einer ökonomischen Dynamik, nicht aber der menschenverachtenden Willkür privatisierter Grenzschutzagenturen unterwirft? Inwiefern ist die begriffliche und die praktische Solidarisierung schon ein kolonialistischer Akt? Wie lässt sich eine migrantische Gegenbewegung gegen die Hegemonie der Sesshaften denken, und was können wir als digitale Kultur zu ihr beitragen?

Welches Wissen können die digitalen Migrant_innen den realen vermitteln – und was können sie von ihnen lernen?

Wie können wir als digitale Kultur den Unterschied realisieren zwischen Menschen auf Reisen, die Metropolenhopping betreiben und denen dabei die allerneueste Technologie zur Verfügung stehen, und jenen auf der Flucht, denen der Zugang verwehrt wird: zu Schlüsseltechnologien und nach Europa, ohne darüber die Gemeinsamkeiten zu vergessen, die sie möglicherweise zu einer starken und solidarischen Bewegung machen könnten? Wie können wir uns auf Migration als (oft prekäres) Lebensmodell beziehen ohne sie dabei zu glorifizieren, aber auch ohne sie abzuwerten, als etwas das einfach nur furchtbar ist?

Wie können wir sie statt zu Opfern (auch unserer eigenen Projektionen) zu machen, als handelnde Subjekte ernst nehmen und anerkennen? Kurz: Wie können wir uns den vielfach aufgeladenen Begriff der Migration aneignen, ohne dabei die Erfahrungen von Migrant_innen zu überschreiben oder zu okkupieren?

Und zuletzt: Wie gestaltet sich eine migrantische Kultur unter Zuhilfenahme digitaler Produktionsmittel? Steigert sie die Deterritorialisierung oder führt sie zu Reterritorialisierungsschüben, etwa, weil die Heimat wieder näher rückt, wenn Skype und Google Earth zur Verfügung stehen?


Frank Apunkt Schneider/Günther Friesinger